Christine Borland
„Die Toten lehren die Lebenden – The Dead Teach The Living“
1997
Installation
Sieben Betonstelen über quadratischer Grundfläche mit sieben Reproduktionen aus Kunststoff (Acrylnitril-Butadien-Styrol) nach Gipsbüsten und -masken, die zu den Studienobjekten der Anatomischen Sammlung an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gehören
Schilder mit knappen Begleitinformationen zu den Nachgüssen:
„Sinanthropus Pekinensis“ (Gipsbüste nach einer Nachbildung des „China-Affenmenschen“ aus der Gegend nordwestlich von Peking. Das Original befindet sich in der Sammlung des Mütter Museums in Philadelphia, USA.)
„Dajak/Dayak/Dyak“ (Gipsabdruck eines lebenden oder toten Mannes – Dyak – von der Insel Borneo. Herkunft unbekannt)
„Kopf aus Ton“ (Möglicherweise eine Nachbildung eines Schädelabdruckes aus Gips. Die Merkmale stimmen mit „typisch nordischen“ Gesichtszügen überein. Herkunft unbekannt)
„Kopf aus Ton“ (Möglicherweise eine Nachbildung eines Schädelabdruckes aus Gips. Die Merkmale stimmen mit „typisch nordischen“ Gesichtszügen überein. Herkunft unbekannt)
„Gipsmaske“ (Wahrscheinlich von einem lebenden Mann, der möglicherweise südafrikanischer Abstammung war. Herkunft unbekannt)
„Gipsbüste“ (Die Büste ist nicht von offensichtlichem anatomischem oder anthropologischem Interesse. Herkunft unbekannt)
„Microcephalus Schröder“ (Büste aus Gipsverband, möglicherweise von einem toten Kind. Unklar ist, ob „Schröder“ der Name des Kindes ist oder aber desjenigen, der dieses bestimmte Krankheitsbild beschrieben hat. Die Büste wurde 1915 von einem örtlichen Bildhauer für die Anatomische Sammlung erworben.)
Standort
Rasenfläche am Jesuitengang nördlich der Petrikirche, temporäre Aufstellung für die Dauer der Skulptur. Projekte in Münster 1997
Christine Borland
* 1965 in Darvel, Großbritannien
lebt und arbeitet in verschiedenen schottischen Orten, u. a. in Kilcreggan und Newcastle upon Tyne, Großbritannien
Auf einer Wiese gegenüber der Petrikirche, auf der sich von 1781 bis 1849 der erste Pathologiesaal der Anatomie der damaligen medizinisch-chirurgischen Lehranstalt in Münster befunden hatte, präsentierte Christine Borland sieben unterschiedlich ausgerichtete Büsten aus weißem Kunststoff auf Betonstelen. Dabei handelte es sich um Reproduktionen von Gipsbüsten und -masken der Anatomischen Sammlung der Medizinischen Fakultät. Diese ließ die Künstlerin scannen, am Computer nachmodellieren und anschließend in Kunststoff gießen.
Borlands künstlerische Auseinandersetzung basierte auf Recherchen zu den wissenschaftshistorischen Hintergründen bislang nur unvollständig katalogisierter anatomischer und anthropologischer Sammlungsobjekte, die ehemals der medizinischen Ausbildung gedient hatten. Der deutsch-englische Titel des Werkes übersetzte die lateinische Vorlage „Mortui vivos docent“. Borland hatte dieses Zitat von der Wand des Sektionssaales des Anatomischen Instituts übernommen. Der Denkspruch drückt die Notwendigkeit für Forschung und Lehre aus, anhand von Präparaten ehemaliger Lebewesen – seien es Totenmasken, Gipsabdrücke, Schrumpfköpfe oder Schädelknochen – neue Erkenntnisse zu gewinnen. Fragen zur Methode und zum Umgang mit Objektivität und Fakten in der Wissenschaft klangen hier ebenso an wie die Aufforderung zur Aufarbeitung und Überprüfung individueller Objektinformationen. Eine zweite und ursprünglich nicht angestrebte Bedeutungsebene leitete Borland aus der Institutsgeschichte ab:
In Verlauf ihrer Recherchen wurde Borland zunehmend klar, dass sich das Hygiene-Institut bereits frühzeitig der nationalsozialistischen Weltanschauung entsprechend dem Studium der Rassenhygiene und Eugenik zugewandt hatte. Daraus leitete die Künstlerin eine zweite und ursprünglich nicht angestrebte Bedeutungsebene ab: „Insbesondere hinsichtlich der Inschrift ‚Die Lebenden und die Toten‘ setzte ich mich mit der Rolle auseinander, die jene Professoren in einer Zeit spielten, in der die immer schon vorhandene Problematik, dieses Facg zu lehren, gewaltige Ausmaße annahm. Außerordentlich bedeutsam erscheint es, dass die Rolle der Professoren während der NS-Zeit – von denen einige berühmt, andere ihrer Taten wegen berüchtigt wurden – vergleichsweise gut dokumentiert ist, im Gegensatz zu ihrem ‚Studienmaterial‘, dessen Identität verlorengegangen ist.“1
Obwohl Borland ihr Projekt nicht als historisch wertend verstand, zog sie eine Parallele zwischen ihrer künstlerischen Aufarbeitung einer Objektgeschichte und den offenbar ehrlichen Bemühungen der Medizinischen Fakultät in Münster um eine Aufarbeitung der Vergangenheit.2
Daniel Friedt
1 Christine Borland, „Die Toten lehren die Lebenden – The Dead Teach The Living“. In: Klaus Bußmann, Kasper König und Florian Matzner (Hg.), Skulptur. Projekte in Münster 1997, Ausst.-Kat.: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster, Ostfildern-Ruit 1997, 72–77, hier: 75.
2 Ebd., 76.
Bilder
Standort
- Noch vorhanden / Öffentliche Sammlung
- Nicht mehr vorhanden
- Im Museum